Soeben erschienen: Europa Konkret: Rentenalter in den EU-Staaten Informationsstand: Frühjahr 2012 Aktueller Datenreport von
Europa-Kontakt, der kompakt und übersichtlich Informationen über das reguläre
und vorzeitige Ruhestandsalter in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
vermittelt, einschließlich weiterer Veränderungen auf diesem Gebiet, die in
einigen EU-Ländern anstehen oder diskutiert werden. |
Perssons Rentenregel: "Sei rüde, sei ehrlich, mach es schnell"
Die europäischen Rentensysteme sind in Bedrängnis: Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Rentner aufkommen; und eine Verbreiterung der Alterspyramide im unteren Bereich ist laut demographischen Projektionen nicht zu erwarten - im Gegenteil: Die Durchschnittslebenserwartung der Europäer steigt kontinuierlich um ca. 2-3 Monate pro Jahr, während die Geburtenrate bei etwa 1,6 Kindern pro Frau stagniert.
Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Heraufsetzen des Renteneintrittsalters gilt für viele als Königsweg, diesen Herausforderungen zu begegnen. Über die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten hat genau das in den vergangenen fünf Jahren getan, setzt gerade Reformen in Gang oder plant solche für die nahe Zukunft. Nicht genug, sagen Stimmen aus EU-Kommission, Europaparlament und nationalen Abgeordnetenhäusern.
Tatsache ist, daß derzeit in der Europäischen Union das reguläre Renteneintrittsalter zwischen 58 Jahren in Slowenien und 68 Jahren in Finnland schwankt, während gleichzeitig Lebensdauer und Vitalität von älteren Menschen allerorten im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten deutlich steigen.
Die demographische Herausforderung
Italienische Frauen verbringen inzwischen durchschnittlich 27,3 Jahre im Ruhestand, Männer knapp 23. Das ist Weltspitze, und andere EU-Staaten wie Griechenland folgen nur knapp dahinter. In Deutschland hat in den vergangenen 50 Jahren die durchschnittliche Dauer des Rentenbezugs bei Männern um 7, bei Frauen um 10 Jahre zugenommen. Ähnliche, jedoch selten niedrigere Zahlen sind von fast allen EU-Mitgliedern zu vermelden.
Andererseits, so das Statistische Bundesamt, wird hierzulande im Jahr 2060 die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter von derzeit rund 50 Millionen auf bis zu 33 Millionen gesunken sein. Der Altenquotient (das Verhältnis der Über-67jährigen zu den 20-66jährigen) würde dementsprechend auf 53% bis 69% ansteigen. Damit stehen gemäß der aktuellen Bevölkerungsentwicklung in 50 Jahren einer Person im Rentenalter kaum 2 im erwerbsfähigen Alter gegenüber, während es heute noch deren vier sind, was etwa dem EU-Mittelwert entspricht. Lag das durchschnittliche Bevölkerungsalter in der Europäischen Union 2009 noch bei 40,6 Jahren, wird es Hochrechnungen zufolge im Jahre 2060 bei knapp 48 Jahren liegen. Diese Entwicklung kann selbst durch den niedrigen Altersdurchschnitt der Immigranten nicht sonderlich beeinflußt werden.
Wer zahlt die Zeche?
Über diese demographischen Entwicklungen sind sich über 70% der Europäer im klaren, wie die zum Beginn des Europäischen Jahres 2012 für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen erschienene Eurobarometer-Umfrage (Special Eurobarometer "Active Aging") der EU-Kommission zeigte. Angesichts der weitverbreiteten Erkenntnis dieser Prozesse erscheint es überraschend, daß lediglich 42% der Befragten die Entwicklung als besorgniserregend ansehen. Beunruhigung wird vor allem von den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft geäußert, die den zukünftigen Herausforderungen bereits jetzt Rechnung tragen müssen.
Denn an der Rentenfrage hängen enorme soziale und finanzielle Strukturen. Für rund ein Viertel der EU-Bevölkerung, etwa 120 Millionen Menschen, sind derzeit Pensionen und Renten die wichtigste Einkommensquelle. Diese stehen auch für einen beträchtlichen Teil der öffentlichen Ausgaben: Derzeit sind es EU-weit durchschnittlich 10% des BIP; angesichts der Lage könnte der Anteil bis zum Jahr 2060 auf 12,5% steigen. Somit geht es bei der Frage der Reform, z.B. des gesetzlichen Renteneintrittsalters, um die Sicherstellung der künftigen Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen, die letztendlich auch die "Grundvoraussetzung für den sozialen Zusammenhalt in der EU" bildet, wie der für Beschäftigung und Soziales zuständige EU-Kommissar László Andor gerne betont.
Politiker der EU-Organe wie der Mitgliedstaaten sehen die Anhebung des Renteneintrittsalters als notwendige Reaktion auf das Altern der europäischen Gesellschaften, um auch in Zukunft Renten und Pensionen in angemessener Höhe garantieren zu können, weil die zum Abfangen des demographischen Trends nötige Erhöhung der Ausgaben auf Dauer nicht finanzierbar wäre. Dabei werden die Auswirkungen der demographischen Entwicklung noch durch die Wirtschafts- und die Schuldenkrise verschärft. Teure und ineffektive Rentensysteme können sich die Staaten nicht mehr leisten; außerdem haben solche, wie im griechischen Fall, auch kräftig an den Haushaltslöchern mitgenagt. Besonders die teilweise komfortablen Regelungen für den vorzeitigen Ruhestand sind im Visier der Reformer. Denn ungeachtet des gesetzlichen Eintrittsalters lag der Zeitpunkt, zu dem die europäischen Beschäftigten tatsächlich aus dem Arbeitsleben ausschieden, im Jahr 2009 bei etwa 61,5 Jahren.
Als goldene Regel für den Umgang mit dieser brisanten Materie gab vor Jahren der schwedische Ministerpräsident Göran Persson, der gegen zahlreiche Widerstände Sozial- und Rentenreformen in seinem Land durchgesetzt hatte, Gerhard Schröder, der dies noch vor sich hatte, den Ratschlag: „Sei rüde, sei ehrlich, mach es schnell“.
Einheitliches Rentenalter für die ganze EU?
Angesichts der allen gemeinsamen Herausforderungen stellt sich auch die Frage von gemeinsamen Antworten. Wäre ein einheitliches Renteneintrittsalter in der EU ein Weg? Die Forderung nach europäischen Lösungen für die gemeinsame demographische Herausforderung bzw. das Verlangen nach stärkerer Koordination bei Rentenentscheidungen ist in den vergangenen Monaten und Jahren oft genannt und zurückgewiesen worden, taucht jedoch hartnäckig immer wieder auf. Dabei nimmt sich die Europäische Union in zunehmendem Maße der Problematik an.
Die Zuständigkeit für die Ruhestandssysteme in Europa liegt bei den Mitgliedstaaten. Allerdings verpflichtet der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die EU, die Bemühungen ihrer Mitgliedsländer im Bereich der sozialen Sicherheit zu unterstützen und zu ergänzen (Artikel 153) und bei der Festlegung und Umsetzung ihrer Politik einen angemessenen Sozialschutz zu berücksichtigen (Artikel 9). Viele Kompetenzen und politische Initiativen der EU wirken sich ohnehin auf die nationalen Rentensysteme aus. Bisher wurden auf europäischer Ebene typische Fragestellungen zu Pensionen und Renten eher fragmentarisch behandelt - dazu gehören z.B. der Abbau von Hindernissen für die Personenfreizügigkeit, der Schutz der Rechte von Arbeitskräften, die Bedingungen für private Anbieter im Bereich der Altersvorsorge im Binnenmarkt oder die Bekämpfung von Diskriminierungen.
2010 fing die Europäische Kommission an, sich aktiv und direkt in die schwelenden Diskussionen über die Erhöhung des Renteneintrittsalters einzuschalten bzw. solche Debatten anzustoßen. Sie begann damit, in dem im Juli 2010 vorgelegten Grünbuch "Angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme" allen Mitgliedstaaten nahezulegen, sich (weiter) mit Möglichkeiten zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu befassen. Der Vorstoß erntete zwar Entrüstung seitens vieler Mitgliedstaaten, doch folgten ihm 2011 gleich mehrere weitere europäische Versuche, in umfassenderem Maße auf die Rentensysteme Einfluß zu nehmen und die Anstrengungen der einzelnen Länder zu koordinieren.
Brüssel läßt nicht locker
Im "Pakt für den Euro", der im März 2011 zum "Euro-Plus-Pakt" erweitert wurde, verständigten sich die meisten EU-Mitgliedstaaten auf Basis einer Selbstverpflichtung auf diverse wirtschaftspolitische Maßnahmen. Zu den ausdrücklichen Empfehlungen des Paktes gehört die Angleichung des Rentenalters an demographische Gegebenheiten, z.B. durch Erhöhung der Beitragssätze oder durch Anpassung des tatsächlichen Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung. Des weiteren soll durch die Begrenzung von Vorruhestandsregelungen und gezielte Anreize eine höhere Beschäftigungsrate unter älteren Arbeitnehmern angestrebt werden.
Solche Empfehlungen, allerdings in konkreterer Form, gab auch die EU-Kommission im Rahmen des "Europäischen Semesters" an die Mitgliedstaaten. Dieses Verfahren der wirtschaftspolitischen Ex-ante-Koordinierung, das 2011 erstmalig angewendet wurde, wird durch den Jahreswachstumsbericht eröffnet, der die ökonomische Ausgangslage analysiert, einen Wachstumsausblick vermittelt und in Form prioritärer Maßnahmen den Kurs formuliert, den die Mitgliedstaaten einschlagen sollen. Sowohl der Bericht für 2011 als auch derjenige für 2012 mahnen Reformen der Rentensysteme an, wozu u.a. wiederum eine Kopplung des Ruhestandsalters an die gestiegene Lebenserwartung, die Einschränkung des Zugangs zu frühzeitigen Ausstiegsmöglichkeiten sowie die Förderung von Beschäftigungschancen für ältere Arbeitskräfte und der Ausbau der Zusatz-Altersvorsorge gehören.
Diese Punkte wurden von der Europäischen Kommission in die länderspezifischen Politikempfehlungen aufgenommen. 16 Mitgliedstaaten erhielten im Herbst 2011 Handlungsempfehlungen bezüglich ihrer Rentensysteme. Und Brüssel läßt trotz aller Kritik nicht locker und drängt auf weitere Fortschritte in dieser gemeinsamen Richtung.
So hat sie im Februar 2012 ein Weißbuch zu angemessenen, sicheren und nachhaltigen Pensionen und Renten veröffentlicht, in der die altbekannten Forderungen mit weiteren Politikempfehlungen für flankierende Maßnahmen ausgeschmückt werden. Hierin kündigt die Kommission an, im Rahmen ihrer Kompetenzen selbst aktiv zu werden, indem sie z.B. qua Rechtsakt die Zusatz-Altersvorsorge mobilitätsfreundlicher gestalten und die Richtlinie zu Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (IORP) überarbeiten will. Schon dies stößt auf erhebliche Widerstände, insbesondere aus Deutschland, wo es als Angriff auf das nationale Betriebsrentensystem apostrophiert wird.
Aber Koordinieren und Empfehlen ist und bleibt der vertraglich eingehegte Handlungsraum der EU-Kommission in bezug auf die Renten. Ihr Eingreifen - das betonten die Vertreter der Mitgliedstaaten auf dem Frühjahrsgipfel des Europäischen Rats 2011 - ist ebenso ausgeschlossen wie ein einheitliches Rentensystem in Europa. Doch auch ohne Einwirkung aus Brüssel und bei aller Verschiedenheit der nationalen Ruhestandsregelungen geht es beim Rentenalter überall nur in eine Richtung: aufwärts.
Auszug aus der Einleitung zum Datenreport "Rentenalter in den EU-Staaten"